Johanniter Juni/21
Seit über einem Jahr befindet sich die Welt im Wartemodus: Wann nimmt die Pandemie endlich ein Ende? Und wie können wir wieder in ein norma - les Leben zurückkehren? Das ewige Warten zer - mürbt – und es ist längst zu einer Art Dauerzustand geworden. Doch schon vor der Corona-Krise war Geduld nicht gerade eine gelebte Tugend: Ob an der Bushaltestelle, beim Arzt oder an der Super - marktkasse – wer warten muss, ist genervt. Jüngere Menschen mag diese Hektik mehr treffen als ältere, Stadtbewohnerinnen mögen oft gehetzter wirken als Menschen auf dem Land. Doch letztlich sind wir alle Kinder unserer schnellen Zeit. Aber muss das so sein? Lässt sich dem Warten nicht auch etwas Positives, Hoffnungsvolles abtrotzen? Denken wir nur an die Adventszeit oder die „freu - dige Erwartung“ der Schwangerschaft. Und auch im Alltag kann das Warten schön sein – wenn wir den nächsten Urlaub planen oder ein Wiedersehen mit unseren Liebsten herbeisehnen. Niemand mag ewig auf sein Glück warten, doch wer alles sofort will, bringt sich um die vielleicht schönste Freude: die Vorfreude. Sie ist das Glück der Geduldigen. Die ständige Verfügbarkeit hingegen entwertet die Dinge. Schließlich wollen nicht nur guter Wein oder würziger Käse in Ruhe reifen, sondern auch Kreati - vität, Liebe und Freundschaft müssen erst gedeihen. Doch wie ist das nun – in Zeiten der Krise? Bietet die Zwangspause nicht auch die Chance, dem hekti - schen Sog des Alltags zu entkommen? Das kommt ganz drauf an. Wer zur Risikogruppe gehört oder den Job verliert, kann wohl kaum an Entschleuni - gung denken. Und wer während des Lockdowns in der dunklen Einzimmerwohnung statt im Haus mit Garten ausharren muss, der hat andere Sorgen als Langsamkeit. Die ungleiche Verteilung von Privile - gien wird unter dem Brennglas der Krise also noch Foto: privat / Illustration: Karo Rigaud Beiträge in der Rubrik „Denkanstoß“ geben nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wieder. Denkanstoß Das ewige Warten Timo Reuter lebt als Autor, Journalist und Gärtner in Frankfurt am Main. Im Westend-Verlag ist sein Buch „Warten. Eine verlernte Kunst“ erschienen. Bei seinen Recherchen hat er unter ande - rem gelernt, wie schwer ihm das Nichtstun fällt. deutlicher. Dies fordert von uns allen mehr Solidari - tät mit den Schwachen und Marginalisierten. Wer darüber hinaus die Möglichkeit hat, sollte die derzeitige Situation aber auch als persönliche Chan - ce begreifen. Wenn es etwas gibt, das wir gerade lernen, dann ist es das Warten – und das heißt, auch mal innezuhalten und zurückzustecken. Die unfrei - willige Enthaltsamkeit kann also dabei helfen, Vor - freude und Demut zu kultivieren. Und sich auf das Wesentliche zu besinnen: dass man einigermaßen gesund ist, soziale Kontakte pflegen kann und eine gewisse wirtschaftliche Sicherheit hat. Aber auch als Gesellschaft sollten wir die Krise nut - zen: Denn so wie die paar Minuten an der Bushalte - stelle uns die Gelegenheit bieten, den Tag vorbeizie - hen zu lassen, so birgt der kollektive Stillstand nun die Möglichkeit, grundsätzlich innezuhalten – und zu überlegen, wie wir eigentlich leben wollen. Wie soll unsere Welt nach Corona aussehen? Und welche Normalität soll da überhaupt zurückkehren? /Timo Reuter Johanniter / Juni 2021 / Unter Freunden 25
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