Johanniter September/21
Alle sitzen um die kleine Sophia herum. Mama ist – Befehl von Sophia – das Flugzeug und muss sie heranbringen. Sophia steigt aus, in der Hand einen Luftballon. Sie wirft ihn zu Uropa Willi, zu Uroma Helga, so geht es Minuten, bis Sophia mit dem Kopf gegen den Schrank knallt und Mama sie in die Arme nimmt. Sophias Augen füllen sich mit Tränen; aber sie macht sich los. „Kein Aua“, sagt sie. Weiter - machen. Mit Helga und Willi. Und die beiden haben gerade auch kein Aua. Vier Jahre ist es jetzt her, dass Franziska und ich zu ihrer Familie zogen – Willi (95), Helga (85) und ihre Mutter Susanna (64). Vier Generationen unter einem Dach. Wie früher. Und wieder modern. Andrew Scott, Altersforscher der Oxford Universität, nennt es „ein Modell der Zukunft in unserer alternden Ge - sellschaft“. Es knirscht auch mal / Sophia sollte mit Garten auf - wachsen, und die Großeltern freuten sich auf Leben im Haus. Jede Generation hat ihr eigenes Reich, Zen - trum ist Willis und Helgas Küche. Scheint die Sonne, verlagern sich die Treffen in den Garten. Monate des gemeinsamen Glücks. Dann kamen auch Streitereien auf. Unsere Schuhe wild im Eingang, die Omas treten ohne Klopfen ein. Es ist nicht böse gemeint. Gegenüber Freunden sind wir achtsam, gegenüber der Familie nachlässig, sagt Anna Machin, Bezie - hungsforscherin aus Oxford. „Weil wir genetisch ver - bunden sind, vertrauen wir mehr in diese Beziehung.“ Es ist wichtig, Grenzen einzuhalten, und neben Orten der Begegnung auch getrennte Orte zu haben. Es ruckelte sich schnell zurecht. Sophia half dabei. Nachdem sie mit Willis Rollator das Laufen gelernt hatte, eroberte sie das Haus. „Oma Susi, vor - lesen!“ – „Oma Helga, Trampolin hüpfen!“ – „Opa, Trompete spielen!“ Willi ist der Zweite im Haus, der uns alle braucht. Es sind die Schwächsten, die eine Gesellschaft zusammenhalten. Foto: @Julian Baumann / Illustration: Karo Rigaud Beiträge in der Rubrik „Denkanstoß“ geben nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wieder Lorenz Wagner ist Autor des „Süddeutsche Zeitung Magazins“ und be - richtet in seinem neuen Buch „Zusammen ist man weniger alt“ von seinem privaten Mehr - generationenhaus und wissen- schaftlichen Antworten auf die Frage nach gesundem Altern. Denkanstoß Zusammen ist man weniger alt. Ich begann, mich mit dem Altern zu beschäftigen, sprach mit Alternsforschern auf der ganzen Welt. Erstmals in der Geschichte, sagen Mediziner wie der Harvard-Professor David Sinclair, lasse sich das Altern umkehren. Medizin, die einen gesünder altern lässt. Darum geht es: die Gesundheit verlängern. Der weltbekannte Professor Nir Barzilai erzählte mir, wie gut es wäre, Kitas und Residenzen zu vereinen. In einem Versuch besuchten Vierjährige täglich ein Altersheim. Ärztliches Fazit nach sieben Wochen: dramatische Stimmungsaufhellung, Gleichgewichts - sinn um 50 Prozent verbessert. Griffstärke verdop - pelt, die Kraft einer Dame hat um 15 Kilo zugenom - men. Und es stärkt auch die Kinder. Jung und Alt gehören zusammen. So wie früher. Sophia wird diese Zeit für immer in sich tragen wird. Wenn sie so alt wird wie Willi, bis ins Jahr 2112. / Lorenz Wagner Johanniter / September 2021 / Unter Freunden 23
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